Verletzlichkeit und Nähe in der Paarbeziehung
Wie alte Schutzstrategien uns heute im Weg stehen können – und wie wir sie mithilfe der 4-teiligen Übung verwandeln können.
Warum fällt es uns überhaupt so schwer, Nähe zuzulassen?
Vielleicht kennst du das: Du sehnst dich nach Nähe, nach einer echten Verbindung in deiner Partnerschaft – aber sobald sie möglich wäre, ziehst du dich zurück. Oder du wirst unruhig. Oder kontrollierend.
Manchmal scheint es, als würde das ganz automatisch passieren und es fühlt sich deshalb irgendwie „normal“ an.
In meiner Praxis für moderne Psychotherapie beobachte ich das häufig bei Menschen, die früh emotionale Unsicherheit erlebt haben – ob in der Herkunftsfamilie oder durch wiederholte Grenzverletzungen.
Bindungstraumata oder alte Erfahrungen, in denen Nähe ambivalent, unklar oder sogar bedrohlich war, können Spuren hinterlassen. Spuren, die auch dann noch wirken, wenn wir längst erwachsen sind.
Was früher geschützt hat – heute aber Nähe verhindert…
Früher hast du vielleicht gelernt:
„Ich muss stark sein.“
„Ich darf mich nicht verletzlich zeigen.“
„Ich darf mich nicht zu sehr freuen – sonst werde ich enttäuscht.“
„Ich darf niemandem voll vertrauen oder muss zumindest vorsichtig sein…“
Diese inneren Leitsätze sind oft Teil einer Überlebensstrategie. In der Schematherapie sehen wir die darauffolgenden Verhaltensweisen als Bewältigungsstrategien. Sie entstehen nicht, weil wir „komisch“ oder „falsch“ sind – sondern weil sie uns helfen sollten, mit emotional schwierigen Situationen zurechtzukommen.
Aber was passiert, wenn diese Strategien weiterlaufen – obwohl wir heute vielleicht andere Möglichkeiten hätten?
Fallbeispiel aus der Praxis: Wenn Nähe mit Kontrolle verwechselt wird
Anna*, Anfang 40, erlebt in ihrer Partnerschaft immer wieder große Unsicherheit. Wenn ihr Partner sich zurückzieht oder viel arbeitet, wird sie unruhig. Dann schreibt sie viele Nachrichten, ruft mehrfach an – und hat das Gefühl, „nicht mehr sie selbst zu sein“. Sie weiß, dass sie damit Druck aufbaut, aber innerlich fühlt es sich wie ein Notfall an und sie bekommt große Angst.
In der gemeinsamen Arbeit wird deutlich: Anna hat früh gelernt, dass Nähe unzuverlässig ist. Ihre Mutter war emotional kaum erreichbar – und wenn Anna damals weinte, wurde sie ignoriert oder beschämt. Die innere Strategie, mit Rückzug umzugehen, war: alles kontrollieren, um die Verbindung nicht zu verlieren.
Heute sorgt dieses alte Muster allerdings dafür, dass sich ihr Partner mehr und mehr distanziert – aus Überforderung.
Im Rahmen der 4-teiligen Übung erkennt Anna: Ihr Bedürfnis nach emotionaler Sicherheit ist völlig legitim. Nur die Strategie, es durch Kontrolle zu sichern, führt heute nicht mehr zum Ziel.
Sie lernt, ihren inneren Alarm ernst zu nehmen – aber nicht automatisch zu handeln. Stattdessen schafft sie sich bewusst neue Formen von innerer Sicherheit: mit Selbstberuhigung, offenen Gesprächen und dem Einüben kleiner Schritte von Vertrauen.
2. Fallbeispiel: „Wenn Nähe von ihm ausgeht, bekomme ich Stress – also komme ich ihm zuvor.“
Sophie*, Anfang 30, beschreibt in der Therapie Beobachtung, die sie irritiert:
„Sobald mein Partner liebevoll auf mich zukommt, mich umarmt oder körperlich wird – besonders, wenn es schnell oder spontan passiert – merke ich, wie ich innerlich dichtmache. Es fühlt sich nach “zu viel“ an. Ich bekomme Stress. Und bevor ich überrollt werde, küsse ich ihn schnell selbst, ziehe ihn ins Bett, nehme die Zügel in die Hand. Dann bin ich wenigstens vorbereitet. Dann weiß ich, was passiert.“
Es fällt ihr schwer, sich einfach fallen zu lassen oder liebevolle Nähe zu empfangen, wenn sie nicht selbst die Richtung vorgibt. In ruhigen Momenten wünscht sie sich Nähe, aber wenn sie von ihm kommt, gerät sie innerlich unter Druck.
In der therapeutischen Begleitung erkennt Sophie, dass diese Strategie eine alte Schutzfunktion erfüllt: Nähe kontrollieren, um nicht überwältigt zu werden. In ihrer Kindheit gab es keine klaren Grenzen. Berührungen waren oft ambivalent – mal warm, mal unangenehm, mal unerwartet. Nähe war nicht gleich Sicherheit. Zum Beispiel tauchte ihre Mutter oft unerwartet schnell hinter ihr auf und zog ihr kräftig am Ohr, um sie zu bestrafen.
Ihr heutiges Verhalten ist also eine kluge, alte Überlebensstrategie – ein Versuch, Sicherheit herzustellen. Doch Sophie beginnt zu verstehen:
Das Bedürfnis nach Nähe ist nicht das Problem.
Die Strategie, immer die Kontrolle zu behalten, verhindert allerdings heute das, was sie sich eigentlich wünscht – echte, entspannte Verbundenheit.
Sie lernt in kleinen Schritten, Nähe im eigenen Tempo zuzulassen. Sie spricht mit ihrem Partner über ihre Reaktion, sie übt bewusst, auch mal nichts zu tun, wenn er auf sie zukommt – und nur zu spüren, was das mit ihr macht. Das ist ungewohnt und manchmal herausfordernd. Aber auch heilsam.
Mit der Zeit entstehen neue, sicherere Körpererinnerungen: Nähe darf langsam sein. Sie darf beidseitig entstehen. Und sie darf sich gut anfühlen – Auch wenn das Zeit braucht und zuerst ganz komisch ist.
Eine 4-teilige Übung zur Selbstreflexion
Wenn du merkst, dass du Nähe vermeidest oder dich in Beziehungen schwer tust, kann folgende Übung ein erster Schritt sein. Sie hilft dir, innezuhalten und liebevoll zu verstehen, warum dein Verhalten früher sinnvoll war, wovor es Dich eigentlich schützen will und wie du dich selbst ein Stück besser begleiten kannst.
1. Welches Gefühl steckt hinter meinem Verhalten
Spür mal in dich hinein: Was genau fühlst du, wenn du dich in einer Situation plötzlich zurückziehst, überreagierst oder übermäßig kontrollierst?
Ist es Angst, dass dir was passiert? Oder das du nicht genügst? Ist es Scham, weil du dich verletzlich fühlst? Wut, die eigentlich ein Ausdruck von Enttäuschung ist?
Diese erste Frage hilft, in Kontakt mit dem Gefühl zu kommen.
2. Woher kenne ich dieses Gefühl – was ist sein Ursprung?
Oft sind unsere heutigen Gefühle wie ein Echo von früher. Vielleicht erinnert dich das Gefühl an eine Situation aus deiner Kindheit, in der du dich verletzt, alleingelassen, hilflos oder unter Druck gesetzt gefühlt hast. An Momente, in denen du dich anpassen musstest, weil es für deine Bedürfnisse keinen Raum gab. Oder an frühe Erfahrungen von Ablehnung, Überforderung oder Kälte.
Es geht hierbei nicht um Schuldzuweisungen – sondern ein offenes, wohlwollendes Angucken und Verstehen.
Du erkennst dabei Es geht nicht (nur) um die Situation mit der Person, die heute vor dir steht. Es geht vor allem um dich – und um alte Gefühle und Verhaltensmuster, die sich zeigen.
3. Was hat mir damals gefehlt – und wie kann ich das verletzte Bedürfnis heute versorgen?
Die Frage nach dem damaligen Mangel hat es in sich. Vielleicht war es das Bedürfnis nach Geborgenheit, emotionaler Sicherheit oder jemandem, der dich bedingungslos annimmt, ohne über Dich zu bestimmen. Jemand, der spürt, dass er zuviel Druck ausübt und rücksichtsvoller sein sollte…
Heute kannst du beginnen, dir diese Bedürfnisse bewusst zu machen – und neue, gesündere Wege zu finden, sie zu erfüllen.
4. Dient mir meine heutige Strategie wirklich – oder braucht sie ein Update?
Jetzt kommt der entscheidende Schritt.
Frage dich ganz ehrlich:
- Schau Dir an: Dient mir diese Reaktion heute wirklich?
- Hilft sie mir, das zu bekommen, wonach ich mich sehne – oder hält sie mich davon ab?
- Würde ich mich mit einer aktualisierten Strategie sicherer, lebendiger oder verbundener fühlen?
Hier beginnt ein Wandel. Du brauchst deine Schutzmuster nicht zu bekämpfen. Aber du darfst ihnen mit Mitgefühl begegnen – und schauen, ob sie ein inneres Update vertragen.
Denn heute bist du nicht mehr das Kind von damals. Du hast mehr Möglichkeiten. Mehr Selbstwirksamkeit. Und vielleicht auch mehr Unterstützung, als du denkst.
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